Lydia Lunch Retrovirus – Köln, Sonic Ballroom (120 Zuschauer, gepackt)
Lydia zurück zu ihren Wurzeln, mit im Gepäck: Ein Haufen irrer Bombenleger, die in Bands mit illustren Namen wie Child Abuse spielen oder bei den Flying Luttenbachers mitwirkten, die sich 2007 auflösten und verkündeten sich erst dann wieder zu vereinigen, wenn die menschliche Rasse reif für Armageddon sei.
Hätte ich im Voraus gewusst, dass Lydia mit Retrovirus auf ihren Backkatalog bis zu Teenage Jesus zurückblickt, hätte ich Zweifel gehegt, dass das was wird, aber diese schrägen Vögel habens echt verdammt gut hingekriegt. Ich hab ja schon mal gesagt, dass Lydia heutezutage nicht viel mehr als krächzen kann, aber sie versteht es, ihre Legende weiter zu leben, die Qualität ihres Irrsinns bleibt hoch und dadurch schafft sie es, die besten Musiker um sich zu scheren (Bob Bert an den Drums nicht zu vergessen).
Und die haben diesen Mist gelebt, sage ich euch. Der Bassist musste sein Maul aufsperren um nicht an seinen Konvulsionen zu ersticken. Teilweise schlug er derart auf die Saiten, dass seine Pranke wie ein Faustschlag Richtung Publikum schnellte. Der Gitarrist richtete mit seinen permanenten Dissonanzen derartigen Schaden an, dass ich plötzlich dachte, er steht jetzt hinter mir und sägt mir in den Schädel. Ich hab das erst einmal gehabt, es war in den 80ern bei Pussy Galore (und wer zur Hölle prügelte auch damals auf einen Metallblock als Snareersatz?), deren Sound mit ihren vier Gitarren so laut und schrill war, dass der Schmerz sich anfühlte als hätte ich flüssiges Eisen im Mund. Hier war es genauso, nicht der Sound, aber die degenerative Intensität, diese magenumdrehende Depression, die sich einstellt, wenn man über eine Stunde lang nur tranceartiges Urwaldgetrommle, den Körper vor die Wand schmetternde Bassfrequenzen und eine unaufhörlich schrill bohrende dissonante Gitarre hört, die wie alles klingen will aber nicht wie eine Gitarre.
Es war der Wahnsinn, es war phantastisch. Der Retrovirus hatte mich voll erwischt. Da meine Schuhe dauernd runterrutschten, wollte ich sie ausziehen und irgendwohin werfen, egal wohin, ich wollte 100 Schuhe ausziehen und sie irgendwogegen werfen, ich wollte mich auf den Boden werfen und in Metallstangen beissen, ich wollte glühende Nickelgroschen auf meine Haut gedrückt bekommen, um zu sehen, wie die schwarze Brühe dran runterläuft. Ich wollte flüssiges Blei in die Knochen gegossen bekommen. Ich wollte zerbombte Städte wie einen Strom sich geisselnder Pestpilger durch meinen Geist gezogen haben.
Und ich glaube alle anderen wollten das an diesem Abend auch. Wie sonst könnte man sich diese Gebanntheit erklären, die bei dem Break und einer geflüsterten Passage im finalen Black Juju zu einer Totenstille führte. Davor hatte Lydia Rowland Howard noch als ihren Lieblingsgeist geehrt.
Ein grandioser Abend an der Schwelle zu einem Wochenende, das noch mehr versprach.